Kurzexpertise der Paritätischen Forschungsstelle zur "Zwangsverrentung" im Rechtskreis des SGB II
Ältere SGB-II-Leistungsberechtigte sind gesetzlich verpflichtet, vorzeitig in Altersrente zu gehen ("Zwangsverrentung"), sofern die rentenrechtlichen Voraussetzungen bestehen und kein Ausnahmegrund vorliegt. Für die betroffenen Personen bedeutet dies lebenslange Abschläge bei der Altersrente. Erstmals legt die Paritätische Forschungsstelle nun Schätzungen zur Zahl der Betroffenen vor.
Offizielle Angaben über die Zahl der Betroffenen liegen nicht vor, da die Statistik der Rentenversicherung keinen Aufschluss darüber gibt, ob Anträge freiwillig oder unfreiwillig gestellt wurden. Auch die Bundesagentur für Arbeit erhebt dazu keine Zahlen. Die Paritätische Forschungsstelle unternimmt es deshalb mit der vorliegenden Kurzexpertise erstmals, den Umfang der Zwangsverrentungen näherungsweise zu bestimmen. Sie stützt sich dabei auf eine Sonderauswertung der Statistik der Bundesagentur für Arbeit, die diese für den Paritätischen vorgenommen hat. Dabei zeigt sich, dass Zwangsverrentungen weiterhin in erheblichem Umfang stattfinden, obwohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im September 2016 meldete, Zwangsverrentungen „abgeschafft“ zu haben.
Zwar hat sich die Zahl der Abgänge von arbeitslosen Leistungsbeziehenden im Alter von 63 und 64 Jahren aus dem SGB II nach einer Reform der sog. Unbilligkeitsverordnung, die Ausnahmen von der Zwangsverrentung regelt, verringert. Auch 2017 waren jedoch noch 49.119 Abgänge der über 63-Jährigen und 22.473 Abgänge von über 64-Jährigen aus dem SGB II in die Nichterwerbstätigkeit oder ohne weiteren Aufschluss zu verzeichnen. Das sind mehr als doppelt so viele, wie etwa fünf Jahre zuvor, im Jahr 2012. Schon jetzt summiert sich die Zahl der mit zum Teil hohen Abschlägen verrenteten SGB-II-Bezieher auf eine sechsstellige Zahl. Die vorliegenden Zahlen lassen zwar weiterhin keine genaue Bestimmung der Zahl der konkret „Zwangsverrenteten“ zu, weil darin u.a. auch Leistungsbeziehende enthalten sind, die in eine Erwerbsminderungsrente wechseln. Da die Menschen aber nicht in eine Erwerbstätigkeit wechselten und im Regelfall auf zusätzliche Sozialleistungen angewiesen bleiben, die sie grundsätzlich vorrangig in Anspruch nehmen müssen, ist trotz der Reform der Unbilligkeitsverordnung 2017 nach wie vor von einer fünfstelligen Anzahl von zwangsverrenteten Menschen pro Jahrgang auszugehen. Für die Betroffenen folgen daraus zum Teil erhebliche und lebenslang wirkende Abschläge auf den monatlichen Rentenanspruch, die sich schnell auf mehrere tausend Euro summieren. Arbeitsmarktpolitisch läuft die Zwangsverrentung dem von der Bundesregierung selbst gesteckten Ziel zuwider, auch älteren Menschen im Erwerbsleben zu halten. Sollte die Praxis der „Zwangsverrentung“ nicht geändert werden, drohen vielen weiteren Betroffenen massive Einbußen bei ihren erworbenen Rentenansprüchen.
Von: Joachim Rock
PaFo-2018-3-Zwangsverrentung.pdf
Quelle: Der Paritätische, 16. August 2018